Verena Eigenmann, Bewohnerin

«Ich habe das Gefühl, das Leben ist gar nicht so schlecht.»

Verena Eigenmann ist seit fünf Jahren im süssbach. Sie erinnert sich an viele glückliche Momente ihres 92-jährigen Lebens. Das Schlechte muss man vergessen, sagt sie. Aber wie vergisst man 50 Jahre Ehe?


Verena Eigenmann ist sehr gepflegt, sie trägt schöne Kleidung und eine dezente Perlenkette. Jeden Morgen macht sie einen Tagesplan, räumt ihr Zimmer auf und geht spazieren, gerne ans Wasser Richtung Aare. Beim Schaufensterbummel freut sie sich über die schönen Sachen: «Ich kaufe nicht, aber ich schau mir das an und habe Freude daran. Ich habe nicht so viel Geld, aber das ist ja egal.» Lesen, handarbeiten und Musikhören stehen auch auf dem Plan. Beim Stichwort Musik leuchtet Verena Eigenmann regelrecht auf: «Ich höre immer Musik, immer. Entweder Mozart oder Beethoven, wunderschöne Musik, die glücklich macht. Das ist so beruhigend, wenn Sie Mozart hören. Das ist meine Lebenslust.» Die Lebenslust begann allerdings mit straffer Disziplin. Ihr Klavierlehrer war nett, aber streng, und in ihrer Familie spielte jeder ein Instrument, weil sich das so gehörte: Ihre Mutter und sie selbst spielten Klavier, der Vater Cello und der Bruder Flöte. Einmal pro Woche mussten sie zusammenkommen, um den Eltern beim Musizieren zuzuhören. Keine Widerrede.

So gehorsam war sie aber nicht immer. «Ich war eine ganz schlimme Kleine», erinnert sie sich. Als Kind ging sie oft zum Bahnhof, weil sie die Dampfloks so liebte: «Wenn die kamen, dann war ich immer da und hab geschaut, bis der Dampf rauskam und dann war ich ganz schwarz. Und die Mutter hat geschimpft: Wie läufst du herum, du bist doch ein Mädchen, kein Bube! Aber es hat nichts genützt, jeden Tag musste ich schauen, ob die Dampflok kommt, die hat gepfiffen und gedampft.» Ein Kindermädchen kümmerte sich um die «schlimme Kleine», wusch sie und zog ihr saubere Sachen an, obwohl die am nächsten Tag ohnehin wieder schwarz waren.

Als die Kleine allmählich gross wurde, schickte ihre Mutter sie ins Welschland, um Französisch zu lernen, anschliessend absolvierte sie eine Lehre zur Drogistin. Mit 25 verliebte sie sich. Er arbeitete als Mechaniker bei der Swissair. Sie heirateten, bekamen eine Tochter, zügelten nach Eschenz, später nach Würenlos bei Zürich. Samstags waren sie mit dem eigenen Segelboot auf dem Zürichsee unterwegs und im Sommer in Spanien. «Das war so schön und friedlich, wir waren ganz ruhig und haben das Meer und den Wellengang genossen. Das vergesse ich nie.» Alles hätte so schön sein können, – wenn nicht die extreme Spielsucht ihres Mannes gewesen wäre und seine Gewalttätigkeit. «Mein Mann, der war einfach jähzornig. Das war schlimm und da musste ich ganz ruhig sein. Darum mag ich, dass es schön ruhig ist auf dem Wasser.» Verena Eigenmann ging zu einer Beratungsstelle und man riet ihr, den Mann sofort zu verlassen, aber: «Ich kann nicht einfach weglaufen, das geht nicht, ich habe auch Verantwortung, habe ein Haus. Ja nu, ich lebe noch.»

Nach 50 Jahren Ehe starb ihr Mann, und die Witwe beschloss: «Ich fange mein Leben neu an, ich will anders leben, die Natur sehen, das Wasser, das Rauschen des Meeres.» Ihr fester Wille, sich nur an die schönen Seiten des Lebens zu erinnern, hilft ihr dabei. Voller Begeisterung erzählt sie von ihrer Konfirmation, als sie eine Schweizer Uhr geschenkt bekam und es danach ein Festessen gab. Von der Modelleisenbahn, die ihr Vater gebaut hat. Sie ist stolz darauf, nach einer schweren Operation das Laufen wieder gelernt zu haben, und dankbar für die vielen kleinen Alltagsfreuden: ihre Freundinnen, mit denen sie im süssbach täglich reden und lachen kann. Ihre Tochter mit Familie, die sie regelmässig besuchen. Auf einem Tisch in ihrem Zimmer sammelt sie die schönen Erinnerungen mit kleinen Gegenständen und Fotos. Ein Foto ihres Mannes steht auch darauf. «Ich schaue ihn nicht so viel an. Das muss ich ehrlich sagen». So einfach ist das.

Bewohnerin Pflegezentrum Brugg, für Menschen mit Geschichte